ZUR

 

NACHT

(Le traitement de la nuit)

 

Stück von

EVELYNE DE LA CHENELIÈRE

 

Deutsch von Gerda Poschmann-Reichenau

2 D, 2 H / minimale Dekoration

DSE 09.12.2023 Landungsbrücken, Frankfurt

 

 

Vier Personen, in ihrem riesigen Anwesen gefangen, erfinden erzählend eine Geschichte von Schuld und Unschuld, Verstrickung, Tod und Mord.

 

Viviane und Bernard sind sehr wohlhabend, ihre Tochter Léna ist wohl behütet und im materiellen Überfluss aufgewachsen. Aber Léna verachtet ihr Leben, sucht die Gefahr, das Verbrechen, den „Untergang“ und versucht immer wieder ihrem Elternhaus zu entkommen, begibt sich unter Prostituierte und Kriminelle, nimmt Drogen, kehrt aber jedes Mal auch wieder zurück. Die Eltern lieben sie dennoch bedingungslos, geben sich verständnisvoll und nehmen sie in Schutz. Eine Armada an Fachleuten vom Psychoanalytiker bis zum Schamanen ist für Lénas Behandlung engagiert, und so wie für die Tochter engagieren sich die Eltern auch regelmäßig für benachteiligte Fremde. So nehmen sie als eine weitere gute Tat den ehemaligen Häftling Jérémie als Landschaftsgärtner und Hausmeister zu sich, um ihm eine zweite Chance zu geben. Warum Jérémie im Gefängnis war, hinterfragen sie nicht.

 

Léna freundet sich mit Jérémie an. Gemeinsam planen sie, Lénas Eltern zu ermorden – „um das Gleichgewicht symbolisch wiederherzustellen“, wie sie es formulieren. Sie inszenieren für Bernard mit einem gestohlenen Wagen einen Unfall auf der einsamen Küstenstraße, schlagen ihn nieder und werfen ihn im Dunkel der Nacht von den Klippen. Dann setzen Léna und Jérémie das Anwesen in Brand. So endet Bernard im Meer und Viviane verbrennt in den Flammen. Eine andere Variante dieser Geschichte erzählt die letzte Szene. Bernard geht nachts dem Rauschen des Meeres nach, bis er sich selbst von den Klippen stürzt. Die beiden Jungen sind unschuldig.

 

Das Stück will nicht schlüssig und stringent einen Kriminalfall oder eine Familiengeschichte erzählen, sondern kreist tastend und mutmaßend Themenfelder ein, wobei sich Szenen mit Variationen wiederholen, Perspektiven wechseln und die „Wahrheit“ bis zuletzt unklar bleibt:

 

Bringen die Kinder die Eltern um oder handelt es sich um Selbstmorde, vielleicht sogar nur um Traumsequenzen oder Phantasien? Vater und Mutter sterben, symbolisch oder konkret, je nach Interpretation. Hat das Wort die Macht, die Wirklichkeit zu formen?

 

 

„Nebel also, in dem auch die Geschichte, die erzählt wird, unscharf bleibt, ausfranst ins Ungewisse, Mögliche. Gespenstische […] So tun, als sei nichts: das ist in diesem ominös flimmernden Stück das (durchaus überall auf der Welt verbreitete) Familienprinzip. […] Zur Nacht“ ist ein einerseits schlichtes, andererseits doppelbödiges Stück. Sprachlich verbindet Evelyne de la Chenelière Witz mit Bitterkeit und Poesie, so dass man geradezu versonnen wieder aus dem Nebel und in die Nacht stapft.“ (Frankfurter Rundschau)

 

 

 

Geboren 1975 in Montreal, studierte Evelyne de la Chenelière Literatur und Theater in Paris und in Montreal, wo sie heute wieder lebt, schreibt und spielt. Sie gehört heute zu den bedeutendsten Kanadischen Autoren. Regelmäßig arbeitet sie mit dem 1963 geborenen Montréaler Schauspieler und Theaterregisseur Daniel Brière zusammen.

 

 

 

Fotos © Jessica Schäfer

 

 

 

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